Unterwegs mit einer Babylotsin in Hamburg
Hamburg zeigt sich von seiner regnerischen Seite an diesem Montag im April. Der Unterstand vor dem Marienkrankenhaus bietet Besuchern Schutz, die auf das Ergebnis ihres Coronatests warten. Auch zwei alten Männern, Patienten offenbar, die im Trockenen ihre Zigaretten rauchen: „Sie haben nur gesagt, wir dürfen nichts trinken. Vom Rauchen haben sie nichts gesagt.“, erklären sie zufrieden.
Das katholische Marienkrankenhaus im Stadtteil Hohenfelde gehört zur ANSGAR GRUPPE gemeinnützige GmbH, einem Verbund der katholischen Krankenhäuser. Jährlich werden hier rund 93.000 Patienten versorgt. Zum Krankenhaus gehört auch das Perinatalzentrum Level 1, in dem Neugeborene mit sehr geringem Gewicht mit modernster Technik versorgt werden können. 2021 kamen im Kath. Marienkrankenhaus 3.568 Babys zur Welt.
Ich, Ulrike Wössner, Referentin beim Caritasverband, bin mit Carmen Canales verabredet. Sie ist Diplom-Sozialpädagogin und außerdem „INSOFA“ - „insoweit erfahrene Fachkraft“ im Sinne des Kinder- und Jugendschutzgesetzes. Seit 2011 arbeitet sie als Babylotsin auf der Geburtsstation im Kath. Marienkrankenhaus. Vier Stunden mit Frau Canales vergehen wie im Flug.
Das Programm Babylotse wurde von der Stiftung SeeYou entwickelt und geht auf die Vision des Kinderarztes und Neonatologen Dr. Sönke Siefert zurück. Warum, so fragten sich Ärzt*innen beispielsweise, besuchen manche Eltern ihre Neugeborenen auf der Neonatologie nicht? Die Nachfrage zeigte: Vielen fehlte schlicht das Geld für die Fahrkarte oder an einer Betreuung für die Geschwisterkinder daheim.
Die Beispiele verweisen auf einen empirisch gut belegten Sachverhalt: Etwa 13% der Familien in Deutschland leben in belasteten Lebenslagen. Kinder aus Familien mit geringem Sozialstatus haben ein deutlich höheres Risiko für Frühgeburtlichkeit, Adipositas, ADHS, Diabetes etc. Die Ursache dafür liegt in einem komplexen Zusammenspiel aus Armut, schlechten Lebensverhältnissen, eingeschränkter Teilhabe und geringem Bildungsstatus. Meist haben auch die Eltern dieser Kinder einen schlechteren Gesundheitsstatus als wohlhabende Eltern. Carmen Canales bringt es auf den Punkt: „Alle Eltern wollen gute Eltern sein - aber nicht alle können es.“ Babylotsinnen in den Geburtskliniken unterstützten Eltern auf diesem Weg. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht das Wohlergehen des neugeborenen Kindes.
Anstellungsträger von Carmen Canales ist die Stiftung SeeYou. Das Katholische Marienkrankenhaus stellt die Büroräumlichkeiten und Sachmittel zur Verfügung. Inzwischen haben alle Geburtskliniken in Hamburg das Programm Babylotse umgesetzt , mit unterschiedlichen Kooperationen und Anstellungsträgerschaften.
Die Babylotsinnen bilden einen essentiellen Bestandteil der Versorgung werdender Mütter und Wöchnerinnen im Kath. Marienkrankenhaus. Ihre Aufgaben sind im Arbeitsprozess systematisch verankert. Um einen möglichen Beratungsbedarf von Familien zu erfassen, füllt das medizinische Personal beim Geburtsplanungsgespräch (ca. 34. Schwangerschaftswoche) mit der Mutter / den Eltern einen Screeningbogen aus – den sogenannten Wilhelm. Im Wilhelm werden medizinische und psychosoziale Daten abgefragt, z. B.: Gibt es finanzielle Engpässe? Besteht eine Allein-Elternschaft oder eine psychische Mehrbelastung, z. B. durch die Versorgung eines behinderten Familienmitglieds? Konsumiert der Vater illegale / legale Drogen?
Täglich holt Carmen Canales diese Anhaltsbögen auf der Station ab und sichtet sie. Bei Hinweisen auf belastete Lebensumstände geht sie auf die Mutter / Familie mit einem Gesprächsangebot zu. Dafür bleibt ihr nur ein kleines Zeitfenster, denn die meisten Wöchnerinnen verlassen spätestens nach drei Tagen die Klinik; in Pandemiezeiten noch schneller.
In diesem persönlichen Beratungsgespräch verschafft sich die Babylotsin einen Eindruck über die Lebenssituation der Familie und ihres sozialen Umfeldes, über mögliche Risiken und Ressourcen. Sie baut eine Vertrauensbasis zu Mutter und Vater auf und benennt auch problematische Faktoren offen und klar. Vor allem aber bietet sie konkrete Unterstützung und Entlastung an, z. B. bei der Suche nach einer Nachsorgehebamme, bei einem Haushaltshilfe-Antrag, sie vermittelt eine Migrationsberatung, Kursangebote, Eltern-Treffs u.v.m.
Carmen Canales ist mit den Anbietern sozialer und gesundheitlicher Hilfen in Hamburg gut vernetzt; sie „lotst“ die frischgebackene Familie durch die teils unübersichtliche Angebotspalette der Frühen Hilfen.
Babylots*innen bilden eine Brücke aus dem Gesundheitssystem Klinik in das System der Frühen Hilfen aus Angeboten der Kinder- und Familienhilfen, Gesundheitshilfen oder Frühförderung . Da fast alle Kinder in Kliniken geboren werden, ist dies der prädestinierte Ort, auch psychosozial belastete Familien zu erreichen, bevor die Versorgung von Kindern prekär wird. Grundsätzlich ist die Beratung der Babylotsin für die Eltern freiwillig. Doch gibt es klare Grenzen der Freiwilligkeit und einen gesetzlichen Schutzauftrag für alle, die mit Kindern arbeiten - auch in der Geburtsklinik (§ 8a SGB VIII). Wenn beispielsweise eine Schwangere alkoholisiert zur Entbindung kommt, wohnungslos oder minderjährig ist oder Anzeichen häuslicher Gewalt zeigt, muss die Klinik tätig werden. In diesen Fällen wird das Jugendamt informiert, welches z. B. über eine Inobhutnahme entscheidet. In der Regel ist dabei der Sozialdienst des Krankenhauses beteiligt.
Mit ihren Kompetenzen und ihrer Erfahrung haben sich die Babylotsinnen im Marienkrankenhaus in den vergangen Jahren beim medizinischen und pflegerischen Personal hohes Vertrauen erarbeitet. Sie haben das Team der Geburtshilfe für psychosoziale Belastungen der Familien sensibilisiert und sie gleichzeitig entlastet: Ihre Aufgabe ist es, sich Zeit zu nehmen, wenn die Pflegekraft oder Hebamme nur ein „schlechtes Bauchgefühl“ haben. Dabei erstreckt sich das Tätigkeitsspektrum der Babylotsinnen nicht nur auf psychosoziale, sondern auch auf gesundheitliche Belastungen. Denn jede Entbindung birgt medizinische Risiken für Mutter und Kind. Babylots*innen ermöglichen ein gutes Entlassungsmanagement auf der Geburtsstation und eine sichere Versorgung des Neugeborenen nach dem Klinikaufenthalt. So wie der Sozialdienst auf der geriatrischen und / oder onkologischen Station des Marienkrankenhauses das Entlassungsmanagement für pflegebedürftige Menschen, gewährleistet.
Carmen Canales gewinnt in ihrer Arbeit vielfältige Einblicke – nicht nur in die Lebenssituation von Familien. Daher will ich zum Abschluss meiner Hospitation von ihr wissen: Wo gibt es die meisten Probleme? Es fehlt an Kinderärzten; sogar für Geschwisterkinder ist es inzwischen schwierig, einen Termin für die U-Untersuchung zu bekommen. Es gibt zu wenig alltagspraktische Entlastungsangebote für Familien. Für Flüchtende ist der Weg von der Klinik nach Hause unzureichend geregelt, daher kann es passieren, dass die Wöchnerin mit ihren neugeborenen Zwillingen im Bus nach Hause fahren muss. Denn für das Taxi übernimmt niemand die Kosten, außerdem lerne ich: Die meisten Taxis haben keine Babyschalen an Bord. Immer wieder fassungslos steht Carmen Canales vor bürokratischen Hürden: „Unfassbar kompliziert, unfassbar langwierig, unfassbar unverständlich.“ Digitalisierung: Fehlanzeige, Amtssprache: Deutsch. Für Rückfragen ist niemand erreichbar. Manchmal lässt die Geburtsurkunde auf sich warten –– doch die ist Voraussetzung für alle weiteren Leistungen. Ein fehlender Stempel kann Leistungskürzungen nach sich ziehen und beispielsweise die Mietzahlung gefährden. Auch eine drohende Wohnungskündigung ist kindeswohlgefährdend.
Ich traue Carmen Canales zu, sich hartnäckig und fachkundig den Weg durch das bürokratische Labyrinth zu bahnen. Allerdings wären ihre Zeit und ihre Ressourcen sicher besser bei der Unterstützung von Familien eingesetzt.